7. Loslassen

Es heißt, dass man sich in Indien beim Affenfang einer besonders raffinierten Methode bedient. Der Affenjäger schneidet in eine Kokosnuss eine Öffnung, gerade groß genug für eine Affenhand. In die andere Seite bohrt er zwei Löcher, durch die er einen Draht führt, mit dem er die Kokosnuss an dem Baum befestigt, auf dem der Affe hockt. Dann schiebt er eine Banane in die Kokosnuss und versteckt sich. Der neugierige Affe kommt alsbald vom Baum, steckt die Hand in die Kokosnuss, fühlt die Banane und packt sie. Das Loch ist aber so beschaffen, dass die schmale, ausgestreckte Affenhand zwar hineinpasst, die Faust mit der Banane jedoch nicht mehr herausgezogen werden kann. Der Affe brauchte die Banane nur loszulassen, um wieder frei zu sein, aber die meisten Affen schaffen es offenbar nicht, von ihrem Fund abzulassen. Trotz aller Intelligenz bringt uns unser Geist oftmals in ein ganz ähnliches Dilemma. Daher gehört das Sichüben in der Haltung des Loslassens oder Nicht-Anhaftens zu den Grundvoraussetzungen der Achtsamkeitsmeditation. Wenn man einmal damit beginnt, das innere Geschehen aufmerksam zu beobachten, zeigt sich schnell eine Vorliebe für bestimmte Gedankengänge, Gefühlslagen und Situationen, die der Geist immer wieder durchspielt. Handelt es sich dabei um erfreuliche Gedanken, Gefühle und Situationen, sind wir bestrebt, ihnen Dauer zu verleihen undund sie immer wieder von neuem zu beschwören. Ganz anders verhält es sich mit unliebsamen, unangenehmen oder beängstigenden Gedanken und Gefühlen. Sie möchten wir loswerden oder gar nicht erst aufkommen lassen. Loslassen heißt zulassen. Es bedeutet, die Dinge so zu akzeptieren, wie sie sind. Beobachten wir unseren Geist in seinem Anhaften oder Widerstreben, so erinnern wir uns an unseren Vorsatz, diese Impulse loszulassen, und beobachten einfach, was weiter geschieht. Genauso verfahren wir, wenn Vorstellungen auftauchen, die sich auf die Vergangenheit oder die Zukunft beziehen: Wir beobachten nur und lassen sie in stillem Gewahrsein los. Manche Gedanken üben eine enorme Macht auf uns aus, und sie loszulassen erscheint fast unmöglich. In diesem Fall können wir unsere Aufmerksamkeit darauf richten, was das Festhalten in uns bewirkt. Festhalten oder »Klammern« ist das Gegenteil von Loslassen, und die Art und Weise, wie wir etwas festhalten, lehrt uns eine ganze Menge über das Loslassen. Ob es uns nun gelingt, loszulassen oder nicht –durch die Übung der Achtsamkeit lernt man, sich mit dem Festhalten gründlicher auseinanderzusetzen, sofern man dazu bereit ist. Der Blick für die eigenen Fixierungen und deren Folgen schärft sich, ebenso wie für den Moment des Loslassens und dafür, welche Bedeutung er für uns haben kann. –Übrigens ist uns dieser Moment des Loslassens keineswegs fremd; er begegnet uns jeden Abend, wenn wir einschlafen. Wir löschen das Licht und lassen Körper und Geist los. Tun wir das nicht, finden wir auch keinen Schlaf. Abgesehen von diesen sieben grundlegenden Haltungsaspekten gibt es noch weitere geistige und seelische Qualitäten, die zur Erweiterung und Vertiefung der Achtsamkeit in uns beitragen. Rücksichtnahme, Großzügigkeit, Dankbarkeit, Duldsamkeit, Versöhnlichkeit, Wohlwollen, Gelassenheit, Mitleid ebenso wie »Mitfreude« sind einige von ihnen. In mancher Hinsicht weisen diese Eigenschaften Verbindungen zu den sieben anderen auf, die wir gerade näher betrachtet haben. Die ihnen innewohnende Kraft können wir leicht erkennen, wenn wir ein bisschen mit ihnen experimentieren. Dazu bewahren wir sie so gut es geht im Sinn und spüren, wie schwierig es manchmal sein kann, mit unserer Dankbarkeit, Großzügigkeit oder unserem Wohlwollen –vor allem auch uns selbst gegenüber –in Kontakt zu sein. Es ist, mit anderen Worten, gerade der achtsam erlebte Mangel an Vertrauen, Geduld, Nicht-Erzwingen oder an Großzügigkeit, Wohlwollen, »Mitfreude« und Gelassenheit in bestimmten Momenten, der uns mit diesen Eigenschaften in Kontakt bringt. Wenn wir misstrauisch oder ungeduldig sind, selbstsüchtig statt großzügig, den Impuls haben, festzuhalten statt loszulassen, zu verletzen statt Rücksicht zu nehmen, und dessen gewahr sind, so ist dies bereits Achtsamkeit. Und indem wir bewusst Achtsamkeit, das heißt wertungsfreies Gewahrsein in uns pflegen, vollzieht sich in unserer inneren Haltung allmählich eine Wandlung. Dann können wir beobachten, wie sie uns hilft, um es in Thoreaus berühmten Worten zu sagen, »dem Tag eine andere Qualität zu verleihen«.

aus: Gesund durch Meditation, Jon Krabat-Zinn