1. Nicht-Urteilen

Um eine neutrale Position uns selbst gegenüber zu gewinnen, müssen wir zunächst erkennen, dass wir fast ständig damit beschäftigt sind, innere und äußere Erfahrungen zu bewerten und auf sie zu reagieren, und müssen lernen, unsere Urteile und Reaktionen mit Abstand zu betrachten. Wenn man sich erst einmal darin übt, die Aktivitäten des Geistes zu beobachten, ist man gewöhnlich überrascht zu entdecken, wie sehr wir unser Erleben unablässig mit Urteilen belegen. Alles, was wir sehen, wird vom Geist sofort etikettiert und klassifiziert. Dinge, Menschen und Ereignisse, die uns ein gutes Gefühl vermitteln, beurteilen wir als »gut«, andere, die uns Unbehagen bereiten, als »schlecht«. Der Rest, also alles, dem wir in Bezug auf uns keine Bedeutung zumessen, fällt in die »neutrale« Kategorie. »Neutrale« Dinge, Personen oder Ereignisse werden aus unserem Bewusstsein ausgeblendet, sie sind für uns in der Regel zu uninteressant, um unsere Aufmerksamkeit zu erregen. Unsere Gewohnheit, alles zu bewerten und in Kategorien einzuordnen, beschränkt uns auf unbewusst ablaufende, stereotype Reaktionsmuster, denen jegliche Objektivität abgeht. Diese Urteilsbereitschaft beherrscht unser Denken so vollständig, dass es nahezu unmöglich ist, innerlich ruhig zu werden und Frieden zu erfahren oder mit einiger Klarheit zu sehen, was wirklich im Innen und Außen geschieht. Unser Geist ist wie ein Jo-Jo, das sich beständig an der Schnur unserer urteilenden Gedanken auf und ab bewegt. Beim Üben der Achtsamkeit kommt es darauf an, dieses urteilende Wesen des Geistes, sobald es sich zeigt, zu erkennen und eine weitere Perspektive zu gewinnen, indem wir uns bewusst aller Bewertungen enthalten und, so gut es geht, die Rolle des neutralen Beobachters einnehmen, der nichts tut, als zu beobachten, was geschieht, einschließlich unserer Reaktionen darauf. Wenn der Geist Urteile fällt, geht es nicht darum, ihn daran zu hindern, und das zu versuchen wäre auch wenig sinnvoll. Wir müssen uns lediglich bewusst werden, dass es geschieht. Es ist nicht nötig, das Urteilen zu beurteilen und so alles noch weiter zu verkomplizieren. Nehmen wir an, Sie beobachten den Atemvorgang, so wie wir es im letzten Kapitel geübt haben und im Folgenden noch ausführlicher üben werden. Plötzlich bemerken Sie, wie der Geist diese Tätigkeit als »langweilig« kommentiert, etwa so: »Zeitverschwendung, es klappt ja doch nicht« oder »Das kann ich nicht«. Das sind wertende Urteile. Wenn urteilendes Denken im Geist einsetzt, ist es sehr wichtig, es als solches zu erkennen und sich daran zu erinnern, dass es Teil der Übung ist, es loszulassen. Beobachten Sie einfach, was immer geschieht –einschließlich Ihrer eigenen bewertenden Gedanken –, ohne Ihren Beobachtungen nachzugehen oder in irgendeiner Form auf sie zu reagieren. Danach wenden Sie sich wieder der Wellenbewegung Ihres Atems zu, indem Sie seinem Auf und Ab in vollem Gewahrsein folgen.

aus: Gesund durch Meditation, Jon Krabat-Zinn